Teilnehmende KünstlerInnen:
Manon Bellet, Boycotlettes, Walter Derungs, Frantiska + Tim Gilman, Daniel Tomas Koščak, Jeannete Mehr, Esther Pfirter, Stephan Theurich, Nicoletta Stalder, Marie Val, Till Velten
Tapetenwechsel – die Kunsthalle Basel befindet sich inmitten konzeptioneller und baulicher Umwälzungen. Das Werk „Tapetenwechsel“ von Esther Pfirter, Fotografien von unzähligen übereinandergeschichteten Tapeten – ist Ansatz- und Ankerpunkt der Ausstellung. Schichten der Geschichte schälen sich ab vor unseren Augen in der Baustelle, die momentan das Haus in Beschlag genommen hat. Tapetenwechsel – deckt Geschichte und Geschichten auf!
Trotz und gerade mit der Baustelle findet die Regionale im Oberlichtsaal statt. Adam Szymcyk hat elf künstlerische Positionen ausgesucht, die im Treppenaufgang und im Oberlichtsaal den Tapetenwechsel auf unterschiedliche Weise anklingen lassen. Die Untersuchung von Architektur, Aussen- wie Innenräume, verlassene und „wartende“ Orte, das Befragen von Erinnerung und Historizität, im Grundsatz der Fluss von Tausch und Austausch und damit Veränderung sind zentrale Themen.
Jeannette Mehr (1974)
*Eiholdern, 2003
Acrylfarbe (Seidenmatt) auf Wand
Bei ihren Wandmalereien geht Jeannette Mehr immer von konkret gesehener und erlebter Architketur aus. Im modernen Bauen erkennt sie das Prinzip der Reduktion, dessen Logik sie in grossen Wandmalereien untersucht. Mehr fotografiert Flachdachhäuser der anonymen Architektur meist aus den 50-er bis 70-er Jahren. In Photoshop bearbeitet sie die Bilder, vereinfacht, reduziert und schält dabei die Logik der Fassade heraus. Abstraktion und Reduktion, Prinzipien, die dem modernen Bauen innnewohnen, erfahren in der künstlerischen Weiterbearbeitung eine Verdoppelung, bis die Fassade in eine einzige, plane Fläche zusammenklappt: Der erlebte Aussenraum wird im Innenraum als abstraktes Bild der Erinnerung lesbar. Das Werk ist auf den Raum ausgerichtet, der konkrete Ausstellungsraum, mit ausgebrochenen Heizkörpern und Löchern in der Wand hallen in der ruhig gehaltenen Farbkomposition wieder.
Frantiska und Tim Gilman-Sevcik (1973, *1971)
*Untitled, 2003
Installation, Gemälde und Bodenarbeiten
Erinnerung respektive die Ungenauigkeit der Erinnerung sind von zentraler Bedeutung im mehrteiligen Werk des Künstlerpaars Tim Gilman und Frantiska Sevcik. Die beiden Gemälde zeigen Innenräume, die in grauen Farbabstufungen gehalten eine merkwürdige Stimmung des Verharrens und der Irritation erzeugen. Trotz figurativer Darstellungsweise ist unklar, was abgebildet ist: die Räume sind schwer zuzuordnen, da und dort kippen die perspektivischen Bildräume in abstrakte Flächenmalerei über. Ausgangspunkt waren jeweils Kunstwerke, „Lumpenprole“, eine Bodenarbeit von Mike Kelly, und „Orpheus (Twice)“, eine Installation mit zwei Spiegeln von Felix Gonzalez Torres. Die Welt der Kunstwerke ist gross und wird immer grösser: Was wir davon sehen und woran wir uns erinnern, macht das „musée imaginaire“ (Malraux) aus, unsere ganz private und persönliche Welt der schattenhaft erinnerter Kunstwelt aus, mit all seinen Fehlbarkeiten und Ungenauigkeiten. Auch die Bodenskulpturen nehmen Erinnerungsfetzen auf: Schattenrisse einer Kommode, eines Klaviers oder eines Schranks.
Stephan Theurich (*1968)
Haustraum, 9 Teile, 2002
Leuchtkasten, Prints, MDF, Acrylglas
Eine surreale Bildgeschichte entspinnt sich über die neun Lichtboxen, die in der Ausstellung lose verteilt installiert sind. Im Zwielicht aufgenommen, sehen wir ein verlassenes Holzhäuschen, eine Kinderhand, die an die Türklinke greift, zerbrochene Scheiben, Menschen, die auf einer Wiese stehen, Momentaufnahmen, die sich bruchstückhaft zu möglichen Geschichten fügen. Es handelt sich jedoch nicht um eine lineare Erzählweise, vielmehr funktionieren die Lichtboxen wie plötzlich aufscheinende Erinnerungsfetzen. Ausgangspunkt für Theurich war wie auch in früheren Arbeiten eine konkret erlebte Situation. Zwei verlassene Häuschen beim Eindunkeln inspirierten ihn, die eigenartig beklommene Schönheit der Stimmung in einem Werk zu inszenieren. Er instruierte seine Familie, bestimmte Handlungen und Posen zu vollziehen. Durch die theatralische Überhöhung der Szenen entfernt sich die dokumentarische Aufnahme vom Boden der Realität und pendelt zwischen Traum und Fantastik hin und her.
Manon Bellet (1979)
*Ohne Titel, 2003
Wandgemälde, Tinte und Tintenkiller auf Wand
Die wandfüllende Malerei, hergestellt mit Tusche und Tintenkiller, ist ein Bild der langsam fliessenden, geschichteten und herausgelösten Bewegungen. Zarte, lasierende Tuscheschichten legen sich übereinander, fliessen der Schwerkraft gemäss von oben nach unten. Linien – mit Tintenkiller aus der verdünnten, flächig aufgetragenen Tinte herausgelöst -, machen die Umrisse einer Halbfigur kenntlich, deren Kopf merkwürdig verzahnt erscheint mit einem Fisch. Bellet lässt die Malerei langsam entstehen. Im Prozess des Schichtens und Herauslösens von Farbe spielt der Zufall eine grosse Rolle: Wie und wohin die Tusche fliesst, kontrolliert die Künstlerin nur selten. Der Fluss der Farbe über die Wand hinweg, die eigenartig verschwisterte Fisch-Mensch Figur, die zum Ornament ausladenden Grasbüschel lassen uns eintauchen in eine Unterwasserwelt ruhiger Bewegung. Was geschieht in diesem Fluss, was ist, was war hier? Vorgestellte, konkrete, geträumte und verschwommene Realitäten klingen an. Die transparente Malerei, die im Verlaufe der Ausstellung aufgrund der Lichteinwirkung zunehmend verblassen wird, deutet auf Vergänglichkeit und Fragilität von Dingen, Orten, Erinnerungen hin.
Walter Derungs (1970)
*Waldhaus Hotels, 2003
Farbfotografie C-Prints
Verlassenheit herrscht als Grundstimmung in den mit der Lochkamera gemachten Farbfotografien von Derungs vor. Es handelt sich um den „Tag danach“: die Saison ist zu Ende im Waldhaus Hotel, Mobiliar und Gerätschaften sind säuberlich verräumt. Die Bilder eines eigenartigen Stillstandes und der Absenz menschlicher Präsenz erzeugen eine geheimnisvolle, mancherorts auch unheimliche Atmosphäre. Mit Tüchern verhüllt erscheint das Kücheninventar gespensterhaft, eine abgehängte Decke verunklärt die räumliche Orientierung, warum manche Stühle ordentlich rund um den Tisch gruppiert sind und andere wiederum auf den Tischen zu liegen kommen, verstehen wir nicht. Die frontal, oftmals achsensymmetrisch aufgebauten Kompositionen sprechen von Leere und Verlassenheit. Wer war hier, wie haben sich die Menschen in diesen Innenräumen bewegt? Der präzis festgehaltene Stillstand lässt nicht allein nach der Geschichte und den Geschichten des Ortes fragen, sondern schürt die Erwartung: Wann werden diese Räume wieder erlebt und belebt?
Boycotlettes (Melanie Fischer, 1976, Lara Schwander, 1976)
Jurassic Park 4, 2003
Plotterfolie auf Wand
Leben und sehen, und weitergehen an einen anderen Ort, und wieder leben und sehen, und weitergehen – im Rhythmus der Zeit gehen boycotlettes von einer Destination zur anderen. Von zentraler Bedeutung ist der Austausch, die Flux von geografisch verwurzelten Ideen und Motiven und ihr Transplantieren und Implantieren an dem nächsten Ort. Boycotlettes stehen ein für ein textiles und gesellschaftliches Ein- und Durchmischen, ihre Kollektionen sind immer auch Aktion und Happening. Während dem Anprobieren wird gefilmt und fotografiert. Die Dokumentationen erfahren eine Abstraktion, Umrisse von Kleidern, Personen, Haltung und Gesichtern finden in Klebebildern eine neue Realität. Diese, in mannigfaltigen Farben, pflanzen sich im Stadtraum fort. An Fenstern und Bushaltestellen, auf Plakaten oder Verkehrstafeln leuchten Umrisse von Figuren authentischer Lebensfreude, voller Witz, Humor und ironischen Kommentaren auf. Kleine farbige Störfaktoren, die den Alltag und dessen Ordnungssysteme mit Leichtigkeit durchbrechen – und den Menschen in seiner konstanten Wandelbarkeit von einem Ort zum anderen bringt.
Esther Pfirter (*1929)
Fotografie, 12-teilig
In Berlin hat die Fotografin Räumlichkeiten gefunden, in denen Geschichte in Schichten im wortwörtlichen Sinne sichtbar wird. Das, was aussieht wie eine Collage, ist in Wirklichkeit eine fotografische Abbildung. Eine Vielzahl unterschiedlicher Plakate, Tapeten und Abziehbilder sprechen eindrucksvoll von verschiedenen Zeiten und vor allem vom Vergehen der Zeit. Mit Vehemenz ist die Patina von Geschichte spürbar, die tagein tagaus vorübeziehende Zeit und ihre Hinterlassenschaft. Pfirter fokussiert mit ausschnitthaften Nahaufnahmen, hält für einen Moment diese ständig fortziehende Zeit dokumentarisch fest. Die einzelnen Aufnahmen gruppiert sie in einem Block. Das Prinzip der Collage, das als Eindruck im Einzelbild entsteht, nutzt sie im Umgang mit der Serie. In der Kombination der Einzelbilder entstehen kompositionelle Bezüge, welche die Dichte von Geschichte und Vergangenheit betonen. Tapetenwechsel: ein Aufdecken von Geschichte und Geschichten.
Daniel Tomas Koščak (1972)
*Ohne Titel, 2001
Zeichnung auf Glas, 6 Teile
Die Serie der Zeichnungen, aufgezogen auf Glas, gehen auf ein grundlegendes Feld der zeitgenössischen Kunst zurück. Der geometrischen Abstraktion und der Minimal Art verpflichtet, destillieren Koscaks Zeichnungen die Essenz des Zeichnens heraus, die Arbeit an der Linie und deren einfachsten Verwendung – als Gitter – die jeder inhaltlichen Formulierung vorausgeht. Aufgezogen auf Glasplatten, die der Künstler aus einer Glasfärberei bezieht und rezykliert, schweben die Zeichnungen vor der Wand, als wären sie nicht aufgehängt, sondern gezeichnet ohne Bildträger. Während Oberflächen in kleinsten Einheiten gemessen werden, eine Linie neben der anderen, von links nach rechts und von oben nach unten fahrend, schafft der Bleistift eine dichte und vibrierende Textur, eine Falle für unseren wandernden Blick, wie dünnes Eis oder eine Landkarte ohne Beschriftung und Koordinaten.
Nicoletta Stalder (1972)
*Soll die Pflanze lange leben musst
Du fleissig Wasser geben, 2003
(If you you like to look at the plant, please water it every now and then) Installation, 6 Teile
Der Arbeits- und Handlungsspielraum von Nicoletta Stalder misst sich immer wieder an den eigenen materiellen, finanziellen und körperlichen Ressourcen. Sie scheut sich nicht, Klischees aufzugreifen, sondern nutzt solche, um Erwartungen zu unterlaufen und nötigenfalls das kunstbeflissene Publikum auf die Probe zu stellen. In Nicolettas Kunstwelt sind die Dinge durchschaubar, Verfahren der Herstellung transparent, ihr Wissen und ihre Fertigkeiten haben eine ganz praktische Ausrichtung. Ihre Kunstpraxis will Nicoletta nicht gefangen wissen im Elfenbeinturm der Kritiker und Kunstwissenschaftler. Vielmehr erkennt sie in der Kunst ein Potenzial, Menschen anzustecken mit einer vordergründig kreativen, lustvollen und lebensbejahenden Energie. Auf einer unmittelbaren Aufforderung zum Tätigsein beruht denn auch die Arbeit für der Regionale: nur, wer sich um die Pflege der Plfanze bemüht, kann deren Blühen erwarten. Im symbolischen Akt des Bewässerns der Zimmerpflanze mag, wer will, dem Wunsch Ausdruck geben, dass die Kunst munter weiter frische Blüten treibt.
Marie Val (1978)
*Transfusion, 2003
Installation mit Video DVD Disk 16 min, Fotografie
Das tägliche Umfeld erfährt durch viele verschiedene Menschen und ihre Handlungen konstante Veränderung. Diese kleinen Dinge und Verschiebungen nehmen wir jedoch oft nicht wahr. Die junge Künstlerin Marie Val fokussiert diese Bewegungen im Alltag. Auf der Strasse zeichnet sie ein Skelett über die Gitterstruktur einer Dohle, Alltagsgegenstand und Gerippe fallen humorvoll in eins. Im Ausstellungsraum werden die Betrachter durch eine fotografische Bodenarbeit an den Bildschirm geführt. Der Print zeigt einen Strassenabschnitt auf dem drei ineinander verschlungene rote Kabel wie ein Bündel von Schlangen zu liegen kommen. Diese finden im realen Raum in den Kabeln des Monitors eine Fortsetzung. Unterschiedliche Ebenen der Realität und die Frage nach der Differenz zwischen natürlicher Erscheinung und künstlicher Natur stehen zur Disposition. Im Video bildet strömender Regen einen weisslichen Vorhang aus, hinter dem eine Wolke aus Dampf das Bild verunklärt. Auch hier werden unsere Vorstellungen von natürlichem Phänomen und menschlich gestalteter Umwelt in Frage gestellt.
Till Velten (1961)
*Sammlung Silberdistel Nr. 7,
Margarethe Wiesler, 2002
s/w-Fotografie, Siebdruck gerahmt
und 7 Broschüren aus des Reihe Gespräche, 2000-2003
Margarethe Wiesler schaut uns entgegen. Eine ältere Frau, wie wir lesen können handelt es sich um eine Bauersfrau, bietet ihre Waren am Marktstand feil. Ihr Gesicht ist freundlich, aber deutlich gezeichnet von der harten Arbeit. Die Sammlung Silberdistel meint eine Serie von neun Porträtfotografien, die Menschen in ihrem Arbeitsumfeld zeigen. Der Mensch in seiner Handlungsfähigkeit steht im Zentrum, das Medium Fotografie ist im klassischen Sinne als Mittel zu einer Gesellschaftstudie eingesetzt. Velten spielt dabei die Form der Dokumentarfotografie aus, die historisch dem Sozialen verpflichtet ist. Der Künstler, der in seinen Arbeiten oft mittels Interviews (oral history) neues und alternatives Wissen über die Welt erfasst, greift hier auf das klassische Mittel der Fotografie zurück. Geschichte und Zeitgeschichte erfasst nicht in den grossen Strukturen, sondern in der Spiegelung des einzelnen, subjektiven Individuums.