Michel Auders Filme und Videos sind Aufnahmen seiner Umgebung, seines ganz privaten Lebens und seiner Mitmenschen. Der französische Künstler gehört zu denjenigen, die sich schon Ende der 60er Jahre mit Video als künstlerischem Medium auseinandergesetzt haben. Über die Jahre produzierte er tausende von Stunden an Film, anfänglich auf Super 8, 35mm- und 16mm-Film, nachfolgend auch auf den jeweils neu erhältlichen Video- und Digital-Medien, bis hin zu der Kamera in seinem Mobiltelefon. Vieles des Filmmaterials wurde erst Jahre später nach der Aufnahme vom Künstler bearbeitet und zu Videoarbeiten gemacht, welche von kurzen Sequenzen, die lediglich ein paar Minuten lang sind, bis hin zu Filmen in Spielfilmlänge reichen.
1945 in Soissons geboren, brach Auder mit 17 die Schule ab und entschied sich, in die USA zu gehen. Seine erste Reise machte er 1962 auf einem Containerschiff, kehrte aber schon nach einem Jahr zurück. Ein paar Jahre später, nach verschiedenen Aufenthalten in Paris und Rom, ging er endgültig nach New York, wo er noch heute lebt und arbeitet. Schon in Europa lebte der Künstler vor allem in Hotels und so zog er auch in New York in eines, das damals so berühmte Chelsea-Hotel, welches Treffpunkt der Kunst- und Theater-Szene und bekannt für seine ausufernden Partys und Happenings war.
Auder begann schon in einer sehr frühen Phase das Medium Film zu entdecken und mit ihm zu arbeiten. Beeinflusst von den französischen Nouvelle Vague- Filmen mit ihrer enthusiastischen Ambition, eine neue Form des Filmes zu begründen, neue Denkweisen zu etablieren und neue Filmemacher hervorzuheben, entschied sich Auder gegen eine konventionelle Bildsprache und gegen festgelegte, nichtssagende Erzählstrukturen. Auders Filme entstehen in seiner näheren Umgebung und setzen sich collagenartig aus selbstgefilmten Sequenzen sowie aus Ausschnitten des Fernsehens zusammen. Oft beinhalten die Arbeiten von dem Künstler selbst komponierte und sorgfältig ausgearbeitete Soundtracks, die gefundenes Material nutzen und klassische und populäre Musik mit vor Ort aufgenommenen Tonaufnahmen mischt. Nach seinem Freund Jonas Mekas, dem litauisch-amerikanischen Regisseur und Pionier des ameri-kanischen Avantgarde-Kinos, nimmt Auder wirklich nur das auf, was er aufnehmen möchte und ihn beschäftigt, ohne zu belehren, zu informieren oder auf einen spezifi-schen Umstand, sei er politisch oder sozial, aufmerksam zu machen. Er ist jemand, der es liebt zu beobachten und das Beobachtete festzuhalten. Es ist unmöglich, nicht von einem voyeuristischen Moment in einigen seiner Arbeiten zu sprechen. Aber es ist auch wichtig, genau zu differenzieren, wo die Grenze zwischen Voyeurismus und dem reinen Beobachten unserer Umgebung, der Dinge wie der Menschen, liegt.
Auder betrachtet, und diejenigen, die seine Filme ansehen, betrachten gezwungenermassen mit ihm. Die Betrachter fixieren ihren Blick auf das Objekt seines Interesses, halten es für das eigene Interesse und werden dadurch mit einbezogen. Auder generiert neue Narrative, die sich zwischen der Dokumentation von Realität und dem Erzählen von Geschichten bewegen.
Der Künstler ist sich der verschiedenen gegebenen Genres und Erzähl-Strategien durchaus bewusst, jedoch folgt er selbst keinem dieser festgelegten Regelwerke, die sich in der visuellen Darstellung etabliert haben und durch Filmindustrie, Fernsehen und Kommerz bestärkt werden. Genauer gesagt folgt er nicht sklavisch, sondern macht seine Freiheit geltend, um eigen zu sein in einer Schlacht durch den Schwall von Bildern. Er ist jemand, der hinsichtlich der Verarbeitung des visuellen Materials bewusst entscheidet, das jedoch aus einem Zusammenhang heraus, der mit den Erfahrungen während der Aufnahmen zu tun hat.
Die Ausstellung Stories, Myths, Ironies, and Other Songs: Conceived, Directed, Edited, and Produced by M. Auder bedient sich ihrem Namen dem Titel und dem Abspann Auders Video Arbeit Stories, Myths, Ironies And Songs (1983), die im zweiten Saal zu sehen ist. Zusammengenommen versammelt die Ausstellung 13 Videoarbeiten, die zwischen 1971 und 2013 entstanden sind.
Die Ausstellung beginnt mit Chronicles Morocco (1971/72). Aufgenommen in Marokko, sehen wir Einheimische in Auders Film, wie einen jungen Mann, den wir nur in Unterwäsche bekleidet über ein weites Feld rennen sehen, der seinen Körper für die Kamera zur Schau stellt, Vogeleier sammelt und isst, sowie danach einen Vogel fängt und ebenso verspeist. Es war der junge Mann, der Auder fragte, Teil seines Filmes sein zu dürfen. Auder war einverstanden und fragte, den Jungen, was für eine Rolle er verkörpern möchte. Die Antwort war „Sindbad – Der Seefahrer“. Der Film folgt einem natürlichen Ablauf von Ereignissen, ähnlich einem Reisebericht. Auders Arbeitsweise wird hier sichtbar gemacht: scheinbar entspannt und locker ist er immer vollkommen fokussiert auf das Subjekt, ebenso wie er mit ihm involviert ist. Jedem Detail des Sets und der Geschichte schenkt Auder seine grösste Aufmerksamkeit.
Der Akt des Sehens ist es – in einer viel direkteren Form – der auch das zentrale Thema der zweiten Arbeit in der Ausstellung ist, Endless Column (2011). Für 18 Minuten, auf eine repetitive Art und Weise, sehen wir Auder auf seinem Computer eine sorgfältig erstellte Auswahl von Bildern durchgehen, die aus seinem enormen digitalen Archiv stammen, welches er in den letzten Jahren zusammengetragen hat. Dabei sind es wir, die zu Protagonisten dieser Arbeit werden und Auders Alltag beobachten, als würde man das Familienalbum einer fremden Person durchgehen und Zeuge des Erlebten dieser werden. Ebenso verhält es sich bei Untitled (I Was Looking Back To See If You Were Looking Back At Me To See Me Looking Back At You) (2012). Auch hier wird der Eindruck vermittelt in den privaten Raum eines Fremden zu schreiten. Auder widmete sich diesem Projekt für mehrere Monate und filmte den Wohnkomplex auf der gegenüberliegenden Strassenseite in der Nacht. Seine Kamera schwenkt über die dunkle Fassade und zoomt auf die schwach beleuchteten Wohnungen. Nach Anzeichen von Leben Ausschau haltend, portraitiert er die Bewohner in den Wohnungen, ertappt sie in flagranti beim Streiten oder Sex haben, ebenso wie beim Essen, Trinken, Fernsehen schauen oder Schlafen.
Im zweiten Saal werden vier Videos auf drei Monitoren gezeigt. In My Love (1977), auf dem ersten Monitor zu sehen, sitzt eine anonyme Schauspielerin nackt auf einem Stuhl und blättert durch das Buch My Love, das 1971 von der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle herausgegeben wurde. Das Buch war ein Geschenk Saint Phalles an Auders Tochter. Er selber ist zu hören, wie er Texte vorliest, während Laurie Andersons Song „O, Superman (For Massenet)“ im Hintergrund läuft.
Ursprünglich für eine Ausstellung in The Kitchen, einem Ausstellungsraum in New York, entwickelt, ist Stories, Myths, Ironies and Songs (1983) eine Arbeit mit einer breitgefächerten Ansammlung von Video-Material. Die Arbeit ist wie ein Buch aufgebaut, mit einer Abfolge von nummerierten Kapiteln, die sich auf vollkommen unterschiedliche Geschichten beziehen. Ned Sublette, ein New Yorker Musiker, komponierte die Musik live für ein Kapitel, während er das Video schaute. Beides, der Titel und der Film, verkörpern Auders Interesse, eine Reihe von unterschiedlichen Erzählformen und Genres (vom Mythos bis zur Ironie) zu erkunden, mit dem Augenmerk auf die konservative Politik in den Vereinigten Staaten am Ende der Ära des Kalten Krieges.
Polaroid Cocaine (1993), das sich ausschliesslich Aufnahmen aus Büchern und Maga-zinen bedient, geht ein Bild nach dem anderen durch. Es zeigt visuelle Informationen und den Akt seiner Aufnahme. Der namensgebende Begriff Polaroid Cocaine wird hier zur Metapher für die Konsumierung von Bildern als Suchtverhalten. Die Arbeit wird begleitet von einem eindringlichen Soundtrack, mit Texten des französischen Autors Jean-Jacques Schuhl, gesungen von der deutschen Schauspielerin Ingrid Caven (der Protagonistin von Schuhls Roman „Ingrid Caven“, für welchen er 2000 den Goncourt Preis gewann). Es waren seine mit existenziellen Fragen geladenen Performances, die die Regeln der Unterhaltungsindustrie brachen. Die Musik verstärkt das Zentrale der Arbeit: Tod, Zerstörung, Verlangen. Brooding Angels (1988), auf demselben Monitor, ist ebenso verstörend. Offensichtliche Gewalt, Widerstand und Paranoia geben den Ton der Arbeit an, welche mit einem Soundtrack überlagert ist, der von Auder komponiert wurde und Fragmente von Musik des Cellisten David Soyer enthält.
48 Hours in 8 minutes (1978) ist ein mit einer Super 8 Kamera aufgenommenes Selbst-Portrait des Künstlers. Vermutlich sind es nicht exakt 48 Stunden, doch wir sehen einen Tag, die Nacht und den darauffolgenden Tag. Und dann ist da der Protagonist, der, so macht es den Anschein, die ganze Zeit in seinem Bett verbringt.
Die Titel der Arbeiten Auders sind teilweise assoziative Wortkombinationen und teil-weise explizite Aussagen über das, was zu sehen ist. Letzteres ist der Fall bei Blind Sex (1983). Aus dem Fenster eines Apartments beobachtet Auder, was auf der Strasse vor sich geht: Prostituierte laufen auf und ab, bis sich zwei Männer nähern, mit ihnen ins Gespräch kommen und irgendwann in einem Hauseingang verschwinden. Zu einem späteren Zeitpunkt, aus einer anderen Perspektive gefilmt – aus dem Fenster Auders Studio in Brookyln – sehen wir, wie eine blinde Frau die Strasse überquert. Geholfen wird ihr von einem Mann, der sich auf der Mitte der Strasse mit einem anderen abwechselt.
Roman Variations (1991), im vierten Saal der Kunsthalle, ist ein epischer Film, der in Rom aufgenommen wurde; einer Stadt die Auder regelmässig besuchte und wo er für ein Jahr ein Studio bewohnte. In dieser Zeit seines Lebens in Rom entstand das Videomaterial für diesen Film. Beim Schneiden des Filmes überblendete er Live-Aufnahmen mit Sequenzen aus dem Fernsehen und reflektiert auf diese Weise die angenehme Eintönigkeit einer Metropole wie auch die auffallende Einzigartigkeit Roms. In Roman Variations bekundet Auder seine lebenslange Faszination für die Ewige Stadt und im selben Moment portraitiert er die Banalität und die Stumpfsinnigkeit des Fernsehens, explizit des italienischen.
In Talking Head (1981) beginnt ein junges Mädchen, Auders Tochter, fast repetitiv über etwas zu berichten, über ein Ding, etwas, das mal da war und dann weg war und nicht wieder zurück kam. Während der ganzen Erzählung packt sie sehr konzentriert etwas aus Plastik aus, was sie innerlich zu beruhigen scheint.
Ein Liebesbrief in Bildern, oder vielmehr ein Bericht über das Verlieben in ein Bild. Wie eine kurze Affäre zusammengestellt ist Made for Denise (1979), eine direkte und sehr persönliche Botschaft an die Witwe des 1978 verstorbenen Malers Richard Lindner (1901–1978). Das Foto der französischen Kunststudentin in der sich langsam schliessenden und wieder öffnenden Hand Auders, wird gezeigt und dann wieder verhüllt. Der Soundtrack dazu ist eine Komposition von Philip Glass, melancholisch und schwerfällig.
Do you love me? (2013), die neueste Arbeit in der Ausstellung, ist eine Collage von Material, das an verschiedenen Orten aufgenommen wurde, und das ausschliesslich mit der Kamera in seinem Telefon gefilmt wurde. Die Frage im Titel – „Liebst du mich?“ – scheint durch die Bilder beantwortet zu werden, während kein Wort von dem unbekannten Adressat zu hören ist.
Die Auswahl der Arbeiten, die in der Ausstellung Stories, Myths, Ironies, and Other Songs: Conceived, Directed, Edited, and Produced by M. Auder zu sehen ist, nimmt uns mit auf eine Reise durch Auders Karriere als Filmemacher und hält den einzigartigen Stil seines Oeuvres fest. Auder, der sich selbst als ungebildeten Anthropologen bezeichnet, zeigt mit seinen Betrachtungen, seinen Filmen, die schönen und die grausamen Seiten des täglichen Lebens. Dabei beobachtet er Menschen, die in Situationen zusammenkommen, die sich zwischen dem Banalen und dem Extremen bewegen und so schmerzhaft sind wie unser eigenes Leben. Der Macher und der Zuschauer verbinden sich im Akt des Betrachtens und verhandeln, was es zu sehen gibt und wie man es sieht. Es geht vor allem um das Sehen und spezifisch um das Betrachten anderer Menschen und das durch die Augen irgendeines anderen, wenn wir plötzlich realisieren in welchem Umfang wir uns entfremdet haben, in einer Welt, die wir so gut kennen und die wir täglich betrachten.
Die folgende Edition wurde anlässlich der Ausstellung produziert. Sie ist erhältlich am Empfang der Kunsthalle Basel.
Michel Auder
Film Stills #1
41.5 × 60 cm
C-Print
Edition von/of 20 + 2AP
Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die grosszügige Unterstützung von
LUMA Foundation und Martin Hatebur.
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Michel Auder, (*1945 Soissons, FR) lebt und arbeitet in New York, USA.
**Einzelausstellungen (Auswahl):*** Portrait of Michel Auder*, Culturgest, Lissabon, Portugal (2013); Michel Auder, Clown Eggs, Office Baroque, Antwerpen, Belgien (2013); Monographic Screenings, dOCUMENTA (13), Kassel, Deutschland (2012);* Matter of Fact*, Hessel Museum, Bard College, USA (2012); Michel Auder, Kayne Griffin Corco-ran Exhibition Space, Los Angeles, USA (2012); Etablissement d’en face, Brüssel, Belgien (2012);* Language is Only a Word and I’m so Jealous of Birds* (kuratiert von Kristine Jærn Pilgaard), NoPlace, Oslo, Norwegen (2011);* Endless Column and Narcolepsy*, Galleria Fonti, Neapel, Italien (2011); The World Out of my Hands, Lund Konsthall, Schweden (2010); Keeping Busy: An Inaccurate Survey of Michel Auder, Newman Popiashvili Gallery & Participant Inc., Zach Feuer Gallery NY & Volume2 L A, USA (2010);* Narcolepsy*, Newman Popiashvili Gallery, New York, USA (2010);* The Feature screening at Museum of Modern Art, New York, USA (2009); Michel Auder Survey, Cubitt Gallery, London, England (2009); European Kunsthalle, Köln, Deutschland (2008); Extra City, Antwerpen, Belgien (2007); Midway Contemporary Art, Minneapolis, USA (2006); Retrospective at 11th Biennial of Moving Images*, Genf, Schweiz (2005);* Michel Auder: Viewer and Participant*, Friche la Belle de Mai, Marseille, Frankreich (2005);* Other Things with Michel Auder*, Ocularis, Brooklyn, USA (2005);* Michel Auder: Chronicles and Other Scenes*, Williams College Museum of Art, Massachusetts, USA (2004); Michel Auder: Secret Sharer, Participant Inc., New York, USA (2003); Michel Auder: Selected Works 1970–2003, Anthology Film Archives, New York, USA (2003); Michel Auder: Retrospective 1969–2002, The Renaissance Society at the University of Chicago, USA (2002); Por-trait of Alice Neel, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia, USA (2001); Kunsthalle St. Gallen, St. Gallen, Schweiz (2000).
Gruppenausstellungen (Auswahl): Almanac, Newman Popiashvili, New York, USA (2013); The Jesus Show, Mi-croscope Gallery, New York, USA (2013); Privacy, Schirn Kunsthalle, Frankfurt, Deutschland (2012);* Pursuit of perfect: The politics of Sport*; South London Gallery, London, England (2012); LUX/ICA Biennial of Moving Images, London, England (2012); Something in the Way, Lofoten International Art Festival, Lofoten, Norwegen (2011);* Lust Und Luster*, Kunstmuseum Bern, Bern, Schweiz (2010);* Strange Comfort*, Kunsthalle Basel, Basel, Schweiz (2010); The Feature, Anthology Film Archive and MoMA, New York, USA (2009);* Chelsea Hotel: Ghosts of Bohemia: Harry Smith, Andy Warhol, Robert Mapplethorpe, Michel Auder, Jonas Mekas*, DOX Center for Contemporary Art, Prag, Tschechien (2009); Reality Check, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen, Dänemark (2008); BB5, Fifth Berlin Biennial V, Berlin, Deutschland (2008); Dear Mosquito of My Heart, Center for Contemporary Art, Tel Aviv, Israel (2007);* Manhattan Transfer*, Zone: Chelsea Center for the Arts, New York, USA (2006); The Future has a Silver Lining, Migros Museum, Zürich, Schweiz (2004); The First Decade-Video From the EAI Archives, The Museum of Modern Art, New York, USA (2002).