Vernissage: Mittwoch, 15. Juni 2011, 19-22 Uhr
Erste Iteration der Ausstellung: „R. H. Quaytman, Spine, Chapter 20“, organisiert von Thom Collins und Avis Larson, Neuberger Museum, SUNY Purchase, New York; Zweite Iteration: „R. H. Quaytman, Spine, Chapter 20“, organisiert von Adam Szymczyk, Kunsthalle Basel, Basel, Schweiz.
Im Gegensatz zu den vorhergehenden und folgenden Kapiteln, die jeweils ihren unmittelbaren Zusammenhang reflektieren, besteht der wesentliche Ortsbezug für Spine in dem Buch „Spine“. In verkürzter Form bildet diese Gruppe von Bildern ein Register meiner Arbeit seit 2001 und ist in diesem Sinne retrospektiv.
Auf dem Saalplan erinnert die Ausstellungsarchitektur an ein geöffnetes Buch mit einer einzigen Seite, an die Form eines Pfeils und an die einer perspektivischen Darstellung. Diese drei Begriffe – Seite, Pfeil und Perspektive – entfalten mittels Architektur und Buchform eine Erzählung und verweisen auf eine sich aus meinem anwachsenden Archiv ergebende Lesbarkeit.
Wenn ich Gemälde produziere, verstehe ich sie zuallererst als Bilder, die neben andere Bilder plaziert werden können. Bei Spine wurde diese Vorstellung aufgrund der enormen Grösse des Raumes auf die Probe gestellt. Denn dadurch wurde es notwendig, die Bilder in langen Reihen zu hängen, was wiederum eine fast wörtliche Bedeutungsübertragung vom einen Bild zum nächsten erforderlich machte. Der Betrachter liest die Bilder entlang der zwei Seiten einer Wand wie Worte auf einer Seite. In dem 1974 von Philip Johnson gestalteten Neuberger Museum zerteilte die Wand einen riesigen fensterlosen Raum diagonal in zwei Hälften. Die Kunsthalle Basel stellt architektonisch gesehen das genaue Gegenteil des Brutalismus jener dunklen, braunen staatlichen Universität dar. Der Raum in Basel wird von zwei grossen Oberlichtern beleuchtet, was an eine Form der Aufklärung des neunzehnten Jahrhunderts denken lässt, die im Gegensatz zu dem Eindruck von Gefangenschaft steht, den der Campus der SUNY Purchase aus den 1970er Jahren hervorruft. Jeder Raum benötigte ein oder zwei entschlossene Schnitte, um der jeweiligen institutionellen Macht zu entgehen, die sich in den Räumen manifestiert. Mit anderen Worten, ich trug die Bilder in eine gegensätzliche Linie ein, die nur durch die Bewegung der Betrachter zu erfahren ist – und nicht auf einen Blick beim Betreten des Raumes. Die errichteten Wände verhinderten die Übersicht wie die Seiten eines Buches.
Da die Mehrzahl meiner Arbeiten Siebdrucke sind, hebe ich die Vorlagen für jedes Bild auf. Für Kapitel 20 verwendete ich das, woran dieses Medium unvermeidlich denken lässt – die Reproduktion. Allerdings sind diese Bilder keine Reproduktionen oder Zweitauflagen, vielmehr handelt es sich um neue Arbeiten für einen anderen Ausstellungskontext. In einigen Fällen überlagern sich die Bilder. In Spine, Chapter 20 werden ungefähr sechs Gruppen von Bildern gezeigt, die der Grösse nach zusammenhängen. Zwischen diese neuen Bilder werden einige kleinere, mit der Hand gemalte Arbeiten aus früheren Kapiteln eingefügt, die ich als „captions“ („Bildlegenden“) bezeichne. Dies sind innerhalb dieses Kapitels die einzigen Bilder in der Ausstellung, die früheren Kapiteln entstammen.
Um den Gegensatz dieser wiederverwendeten früheren Vorlagen/Bilder zu betonen, trug ich einen dünnen Streifen aus roten, grünen und blauen Linien auf, gewissermassen einen Buchrücken, der alle die auf Fotografien basierenden Bilder in zwei Hälften teilt. Dieser Buchrücken markiert nicht nur die Bilder als zu diesem Kapitel gehörige, er spielt auch auf das RGB-Farbmodell an, das bei Computermonitoren und Fernsehbildschirmen zum Einsatz kommt. Dieses RGB-Modell ist, im Gegensatz zum subtraktiven Farbmodell (CMYK), wie es im Allgemeinen für Siebdrucke verwendet wird, kontraintuitiv. Bis vor kurzem stellte ich die Bilder aus verschiedenen Kombinationen von Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz her, um das volle Farbspektrum abbilden zu können. Bei den neuen Bildern jedoch schränkte ich die Palette auf verschiedene Kombinationen von Rot, Grün, Blau, Schwarz und Weiss ein.
Im hinteren Raum ist eine Auswahl von Bildern zu sehen, die ich 2004 für Łódź Poem, Chapter 2 produziert habe. Mein wichtigster Ausgangspunkt für einen Dialog bei dieser Reihe waren die Korrespondenzen zwischen Aspekten der Theorie des Unismus, die Katarzyna Kobro (1898–1951) vertrat, und jenen, denen Władysław Strzemiński (1893–1952) folgte. Seit 1999 haben diese beiden Künstler meine Praxis nachhaltig beeinflusst. Ich nutze sie als allegorische Köder, um begriffliche/historische Gerüste zu konzipieren.
Das zentrale Bild dieses Kapitels war ein auf einer Fotografie basierender Siebdruck, der eine spiegelverkehrte Nachbildung von Kobros Raumkomposition 2 (1928) zeigt. Ursprünglich hatte ich dieses Modell 1999 für eine andere Ausstellung in Polen konstruiert. Für Chapter 2 verwendete ich eine Farbfotografie, von der zwei farblich unterschiedliche Siebdrucke hergestellt wurden. Beide Bilder trugen den Titel Spatial Composition 23.3 Parsecs Away. Das Parsec (Parallaxensekunde) ist eine astronomische Einheit für das Mass der Entfernung eines Sterns zur Erde. Licht, das im Jahr 1928 von einem Stern ausgestrahlt wurde, benötigte 23.3 Parsecs, um 2004 die Erde erreicht zu haben. Mit der Hand malte ich, mit Bezug auf das Datum der auf dem Foto abgebildeten Skulptur, in Öl die Zahl „1928“ auf das Bild. Für Kobro bedeutete der Unismus die vollständige Einbettung ihrer Objekte in deren materiellen wie subjektiven Kontext und im wörtlichen Sinne in Architektur und Zeit. Diese verstärkte Betonung der perzeptiven und temporalen Erfahrung des Sehens unterminierte die autonome Objekthaftigkeit der Skulptur. Diese Vorstellung versuchte ich auf die Malerei zu übertragen. Durch die Anerkennung der veränderlichen Position des Betrachters (vor einem Bild sowie in der Bewegung zum nächsten Bild) innerhalb des Rahmens der Ausstellung sowie der umfassenderen gesellschaftlichen Zusammenhänge, die in dieser enthalten sind, gerät die privilegierte Position des isolierten Bildes ins Wanken.
Zusätzlich zu den auf Fotografien basierenden Siebdrucken sollte ein optisch aufgeladenes, gestreiftes Bild die zweite Stimme in diesem Dialog repräsentieren. Leider wurde dieses Bild irreparabel beschädigt. Es war das erste, mit dem ich ein optisches Nachbild erzeugen wollte. Ursprünglich entstand es in direktem Bezug auf Kobros Ehemann und Hauptgesprächspartner, Władysław Strzemiński. Ich berufe mich weiterhin auf seine Theorien über Malerei, in denen er die reine Optikalität betont. Sein Ziel bestand darin, das gemalte Objekt in einer in sich geschlossenen bildlichen Flächigkeit zu isolieren, um sich so dem Subjektiven zu entziehen.
Ein Gemälde aus The Sun, Chapter 1, das den überwucherten jüdischen Friedhof in Łódź zeigt, war ebenfalls Teil der Reihe. Ich malte die Zahl „2000“ auf das Bild, mit Bezug auf das Jahr, in dem das Foto aufgenommen wurde, statt, wie in meinem früheren Bild Spatial Composition, auf das Datum des auf dem Foto Abgebildeten. Zwischen diese Siebdruckbilder und um sie herum hängte ich vier handgemalte „caption“-Bilder. „Caption“ lautet der Titel, den ich den kleinsten handgemalten Arbeiten gebe. Zwei Bilder aus dieser Reihe nahmen unmittelbar Bezug auf Strzemińskis Zeichnungen von sich auflösenden Figuren, die er während des Zweiten Weltkriegs im Ghetto von Łódź geschaffen hatte. In theoretischer Hinsicht stehen diese Arbeiten für die Auflösung vieler seiner unistischen Überzeugungen.
1996 zeigte Edward Krasiński in der Kunsthalle Basel eine Ausstellung in denselben Räumen der Oberlichtsäle. Er ist der Geist, dessen Präsenz ich in dem letzten Raum beschwöre.
R. H. Quaytman
Die Ausstellung wurde grosszügig unterstützt von Martin Hatebur.
< Online-Artikel zur Ausstellung auf Artline
R. H. Quaytman (geboren 1961, Boston, USA) lebt und arbeitet in New York.
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