Vernissage: Mittwoch, 16. Juni 2010, 19h
Pressebesichtigung: Mittwoch, 16. Juni 2010, 12h
Die Kunsthalle Basel freut sich Speaker Receiver, die erste institutionelle Ausstellung in Europa mit Arbeiten von Moyra Davey anzukündigen. Die 1958 in Kanada geborene Künstlerin lebt und arbeitet in New York.
Daveys künstlerische Praxis umfasst Fotografie, Film und Video, ebenso wie Lesen und Schreiben. Sie versteht die beiden letztgenannten Aktivitäten als untrennbare und ebenso bedeutsame Techniken des Arbeitens: ihre lebhaftes, prägnantes Verständnis von Philosophie und Literatur führen zu neuen Schriften, die wiederum bestehende Texte reflektieren, da sie auf Erinnerungen und Zitaten aufbauen. Indem sie eine Affinität oder sogar einen wechselseitigen Einfluss zwischen den Tätigkeiten des Lesens und Schreibens vorschlägt, lokalisiert Davey den Punkt, an dem der Wunsch nach fliessender Produktion und Konsumation diese beiden normalerweise gegensätzlichen Seiten des Kommunikationsprozesses, sich treffen und überschneiden lässt. In Bezug auf Daveys Arbeit könnte man sagen: schreiben ist lesen. Die Künstlerin beschäftigte sich in ihrem langen Essay The Problem of Reading (Documents Books, 2003) ausführlich mit dieser Thematik. Ihre schriftstellerische Tätigkeit sollte nicht als Mittel zum blossen Kommentieren ihrer visuellen Produktion oder zur Darstellung des Quellenmaterials der „richtigen“ Arbeiten verstanden werden, sondern als ein Element ihres Schaffens, um die Ideen, die ihre Fotografien und Filme zu erforschen suchen, hervor zu heben. Davey formuliert in der Tat nicht weniger als den Aufruf zu einer Fotografie, deren Ursprünge und Ziele im Schreiben liegen – eine vernünftige Forderung, wenn wir Fotografie im Sinne der griechischen Etymologie des Wortes als eine Art „mit Licht zu schreiben“ verstehen.
Zu der Ausstellung in der Kunsthalle Basel gehören zwei von Daveys neueren Videos: Fifty Minutes (2007), ein Monolog, komponiert aus Passagen über relevante Themen: Geld, Zeit, Abhöraktionen, Hollis Frampton, Nostalgie, Angst, Schwangerschaft, ein Sofa und ein Kühlschrank – auf letzterem steht eine „Skyline“ aus Nahrungsmitteln und Medikamenten und er taucht auch in einer von Daveys Fotografien auf; My Necropolis (2009), das dokumentiert, wie die Künstlerin die Gräber von Schriftstellern auf verschiedenen Pariser Friedhöfen besucht. Diese beiden Videos können von einem bequemen Sofa aus auf einem Monitor angeschaut werden. Das Sofa wurde im Ausstellungsraum plaziert, als ob es klar machen sollte, dass Daveys Häuslichkeit auf Kriegsfuss mit dem Museum steht.
Daveys ausgestellte Fotografien sind bescheiden in ihrer Grösse, traditionell abgezogen, auf eine kleine Anzahl an Motiven begrenzt und zeigen auf unspektakuläre Weise die Bedingungen des Lebens und Arbeitens als eine Metapher für die „Condition Humaine“ und deren Widersprüche. Die Bilder zielen darauf ab, noch ein weiteres, fundamentaleres Paar von einander entsprechenden Zuständen als das von Übertragung und Empfang zu etablieren– das des Arbeitens und Lebens. Vielleicht schlagen sie aber auch vor, arbeiten als leben zu verstehen, als nicht-befremdende Arbeit und somit als eine Existenz, die sich ihrer neu erkannten Fähigkeiten bewusst ist, ihrer noch zu erreichenden Möglichkeiten und inhärenten Begrenzungen. So gesehen macht Davey uns, die Betrachtenden, zu Komplizen im Prozess des Lebens, den sie in Fotografien unbelebter Dinge aufzeichnet, die von ihrem Gebrauch sprechen und von denen, die sie benutzen. Dadurch schafft sie es, dieses „gut-geprüfte Leben“ (wie Helen Molesworth es ausdrückt) ans Licht zu bringen. Ihre Fotografien sind Elemente und Aufzeichnungen von etwas, was der italienische Autor Cesare Pavese im Titel seiner Tagebücher „il mestiere de vivere“ nannte – das Métier, oder die Profession, des Lebens.
Speaker Receiver, der Titel von Daveys Ausstellung in der Kunsthalle, greift das Verständnis der Filmwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin und Kritikerin Kaja Silverman von den Begriffen der Übertragung und des Empfangs von Bildern und Worten im Hinblick auf die Politik der Bildproduktion und der Geschlechter auf. Wie Silverman in ihrem Aufsatz The Author as Receiver (October, no. 96, 2001) und in ihrem jüngsten Interview mit George Baker (Artforum, Februar 2010) beschreibt, ist eine solche Übertragung Teil einer patriarchischen, totalisierenden Ordnung, während der Empfang eine produktive Möglichkeit in den Händen von Künstlern ist. Dementsprechend lautet Daveys Vorschlag, dass Künstler ebenso Empfänger wie Sprecher sind. Eine Idee, in der vielleicht auch die „negative Fähigkeit“ mitschwingt, die John Keats am 21. Dezember 1817 in einem Brief an seinen Bruder erwähnt („when man is capable of being in uncertainties“ (wenn ein Mensch dazu fähig ist, in Ungewissheit zu sein)).
Die Ausstellung in Basel wird von einer neuen Monografie begleitet, die ebenfalls den Titel Speaker Receiver trägt. Die Publikation wird herausgegeben von Adam Szymczyk, von Sternberg Press veröffentlicht und enthält Essays von George Baker, Chris Kraus, Bill Horrigan und Erik Rosenberg, sowie ein Interview mit der Künstlerin. Teil von Speaker Receiver ist auch Index Cards, ein neuer Text von Davey, in der sie über Dinge, wie eine gerade überstandene Krankheit, ihre persönliche Kartographie von Paris und ihre Gewohnheit, Zeitung zu lesen, nachdenkt. Mehr noch als eine systematische Argumentation zu formulieren, entfaltet sich der Aufsatz in einer Reihe von kurzen „takes“ oder Fragmenten und beginnt mit einem Zitat aus Walter Benjamins Brief an Gershom Scholem, in dem Benjamin die Uhr, die er aus dem Fenster seines Ateliers heraus sieht, eher rätselhaft als „Luxus, ohne den er nicht auskommen kann“ bezeichnet. Zusätzlich umfasst Index Cards Kurzgeschichten zu so bemerkenswerten und aussergewöhnlichen Individuen wie dem Architekten Aldo Rossi, der Schriftstellerin Jane Bowles und das Schachwunder Paul Morphy.
Das Buch wurde von der in Amsterdam lebenden Schweizer Grafikerin Julia Born gestaltet und bringt diverse Aspekte von Daveys Arbeit zusammen. Fotografien, die in der Reihenfolge ihres Erscheinens in die Texte eingestreut wurden, unterbrechen die Beiträge der Schreibenden. Weiter entschied sich die Künstlerin, für ihren eigenen Essay und für das während der Vorbereitungen für die Ausstellungen improvisierte Interview ihre fotografischen „Mailers“ zu reproduzieren. Davey nennt diese in Serie und Format einzigartige Arbeit gern einfach „mail art“ (Post-Kunst). Es handelt sich um dreissig mal fünfundvierzig Zentimeter grosse, in Fotolabors entwickelte Fotografien, welche die Künstlerin faltet und mit der Post an die Kuratoren und Galleristen schickt, bei denen sie ausstellt. Wenn die Fotos ankommen, werden sie aus dem Umschlag genommen (oder, wenn sie nur zugeklebt waren: werden sie geöffnet) und ausgebreitet. In der Form eines Rasters werden die „Mailers“, samt lesbarer Namen und Adressen, Briefmarken, Falten und zufälliger Risse und Zeichen der Abnutzung an die Wand geheftet, wo sie den blossen Begriff des „Unfalls“ verkörpern, der in Daveys Schriften und besonders in ihrem Essay Notes on Photography & Accident von entscheidender Bedeutung ist. In der Ausstellung in der Kunsthalle Basel werden mehrere dieser Raster neben einzelnen Fotografien gezeigt, die ausgewählte Details aus dem Atelier und der Wohnung der Künstlerin zeigen, in der sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt. Zu diesen Details gehören eine Hundepfote auf einem staubigen Fussboden, die Nadel auf einer Langspielplatte, Hüllen und Stapel von Platten, eine mit den Worten „long life cool white“ beschriebene Neonröhre, sich auf Regalen türmende Bücher und Papiere, Zeitungsausschnitte, billige Knöpfe, gebrauchte Kupfer-Pennies mit der Prägung von Abraham Lincolns Profil (Copperheads, 1990), eine Sammlung von Verstärkern und Lautsprechern, leere Whiskeyflaschen und vieles mehr.
Die Arbeit von Moyra Davey wurde 2008 in der Übersichtsausstellung Long Life Cool White im Fogg Museum, Harvard University Art Museums, gezeigt. Helen Molesworth war die Kuratorin und gab unter demselben Titel auch den Begleitkatalog heraus (Yale University Press, 2009). In New York stellte Davey in Colin de Lands berühmter Galerie American Fine Arts aus und war Partnerin in der kooperativen, von Künstlern geleiteten Galerie Orchard. Sie ist ausserdem Herausgeberin von Mother Reader: Essential Writings on Motherhood (Seven Stories Press, 2001), einer „Sammlung von Texten über die Überschneidung von Mutterschaft und kreativem Leben“. Zu ihren letzten Gruppenausstellungen gehören Photography on Photography: Reflections on the Medium Since 1960 im Metropolitan Museum of Art in New York im Jahr 2008 und Calendar of flowers, gin bottles, steak bones (mit James Welling und Claire Pentecost) in der Orchard Galerie in New York im Jahr 2007. Moira Daveys nächste Ausstellungen sind Atlas (kuratiert von Georges Didi-Huberman) und Mixed Use, Manhattan: Photography and Related Practices, 1970s to the Present (kuratiert von Lynne Cooke und Douglas Crimp), die beide 2010 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid stattfinden werden. Daveys Arbeit ist derzeit auch bis zum 25.September in Strange Comfort (Afforded by the Profession) (kuratiert von Adam Szymczyk und Salvatore Lacagnina) im Keats-Shelley-Haus in Rom zu sehen.