Die Kunsthalle Basel freut sich, die erste umfassende Einzelausstellung Adriana Laras in der Schweiz zu präsentieren. Die 1978 in Mexiko geborene Künstlerin lebt und arbeitet in Mexico-City.
Im Zentrum der neuen Ausstellung S.S.O.R. von Adriana Lara in der Kunsthalle Basel steht eine Installation im Oberlichtsaal, die den Titel Symbolic Surface of Revolution (2012) trägt. Der Begriff surface of revolution ist eine mathematische Bezeichnung für eine unregelmässige, runde Oberfläche, die entsteht, wenn man eine Kurve im euklidischen Raum um eine Gerade rotieren lässt. In Laras S.S.O.R. ist eine fortlaufende Reihe kleiner schwarzer Rechtecke zu sehen, die sich über 68 gleichförmig aufgespannte weisse Leinwände fortsetzt, und auf den so genannten „Domino Effekt“ Bezug nimmt. In der Mathematik wird der Domino Effekt dazu verwendet, das Prinzip der Ordinalzahlen aus der Mengenlehre des deutschen Mathematikers Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor (1845-1918) zu illustrieren, einem Prinzip ähnlich dem der mathematischen Induktion. Dabei geht man davon aus, dass eine Aussage für eine Zahl n wahr ist und beweist, dass die Aussage ebenfalls für jede Zahl n+1 wahr ist. Überträgt man das Prinzip auf das Model der Dominosteine, so ist die Aussage für die erste sowie für alle anderen ordinalen Zahlen wahr, wenn mit dem Anstoss des ersten Steines, alle Dominos fallen.
Es gibt auch eine politische Theorie, deren Name sich vom gleichen Prinzip ableitet. So propagierten die Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges die Überzeugung, dass der Kommunismus sich von Land zu Land wie durch einen Domino-Effekt verbreite und gingen systematisch gegen jede kommunistische Bedrohung vor. Im Jahr 1968 fanden die Olympischen Winterspiele in Grenoble, Frankreich, statt. Nicht weit davon, in Paris, wuchs eine Reihe von Studenten-Streiks zu den berühmten Protestbewegungen an. Die darauffolgenden Sommerspiele der Olympiade sollten in Mexiko stattfinden. Durch die französischen Studenten inspiriert, kam es in Mexiko City zu einer Reihe ähnlicher Proteste, die durch die Regierung auf tragische Weise im so genannten Tlatelolco Massaker, zehn Tage vor der Eröffnung der Spiele, niedergeschlagen wurden.
Möglicherweise reicht die Metapher der Induktion nicht aus um die Dynamik einer Revolution zu beschreiben und man sollte eine passendere Form der Kettenreaktion finden, in der der Domino Effekt in Kombination mit exponentiellem Wachstum beobachtet werden kann.
Eine weitere Arbeit, die im angrenzenden Saal 11 zu sehen sein wird, ist 1 (one) from the series Numbers (Disambiguation) (2007). Die Arbeit besteht aus einer Leinwand, die nicht wie üblich auf einen rechteckigen oder quadratischen Rahmen aufgezogen ist, sondern eine zwei Meter hohe Kartonsäule umspannt. Das hellgraue Schachbrettmuster, das auf die Leinwand aufgedruckt ist, ist dem Adobe Photoshop Hintergrund, dem sogenannten „canvas“ (Leinwand), entlehnt. Die „Leinwand auf der Leinwand“ umschliesst die zylindrische Säule und wird zur drei-dimensionalen Skulptur, deren wortreicher Titel als ironische Anspielung auf die oft ebenso trockenen und ausufernd deskriptiven Titel konzeptueller Kunstwerke gelesen werden kann. Dass der Titel das Wort „Disambiguation“ (Begriffsklärung) enthält, steht im Widerspruch zum Objekt, das sich – obgleich der Zusatz Disambiguation Klärung verspricht – einer eindeutigen Kategorisierung widersetzt.
Wie auch die mit versteckten Andeutungen und Konnotationen behafteten Titel, sind die künstlerischen Arbeiten in der Ausstellung als Verweise, Symbole und Figuren in einem Spiel mit Erwartungen und Assoziationen zu sehen, das nicht nur zum Nachdenken anregen soll, sondern auch zur Suche nach neuen Denkweisen. Lara gibt einen weiteren Hinweis zur Deutung der Ausstellung, indem sie einen Zylinder mit einer Leinwand umhüllt, was wiederum Verweis auf die Surface of Revolution ist. Tatsächlich ist der Zylinder die einzige in sich flache, gewölbte Oberfläche. Die Geste des Ein- oder Umwickelns, die bereits in der Dominoreihe auftaucht, verbindet die Idee der Unendlichkeit der Ordinalzahlen mit dem Prinzip der Revolution. Am deutlichsten wird dies in Form eines bekannten Kreises: eine unendliche Zeitleiste die den Zeiger eines runden Ziffernblatts umrundet.
Mit ihrem individuell verschiedenen Vorwissen sowie unterschiedlichem Einfühlungswillen und -Vermögen der Besucher, sind die Besucher angehalten nach Lösungen für Adriana Laras konzeptuelle Rätsel zu suchen. Die in den Arbeiten angelegten Andeutungen sind hintergründig und vage. Dadurch sind sie in einem Schwebezustand, der sich bereits in der im Ausstellungstitel enthaltenen Wortkombination symbolic surface ankündigt und als eine vielseitige Anspielung verstanden und interpretiert werden kann, die auf unendliche Spielarten und Definitionen von Kunst verweist, zwischen Kunst als Oberfläche, Dekoration oder l’art pour l’art und Kunst mit tiefergehendem Symbolgehalt oder politischer Dimension.
Die Ausstellung wurde durch die grosszügige Unterstützung von der artEDU Stiftung ermöglicht.
Adriana Lara (*1978, Mexico City) lebt und arbeitet in Mexico City. Sie studierte von 1999 bis 2002 Photographie an der Escuela Activa de Fotografia, Mexico City sowie von 2000 bis 2001 Art und Design an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste, Den Haag. Sie nahm 2004/05 am Jovenes Creadores des FONCA, Mexico sowie 2002/03 am Le Pavillon des Palais de Tokyo in Paris teil.
Einzelausstellungen (Auswahl): Scryyns and Interesting Theories, Air de Paris, Paris (2011); salt 1: Adri-ana Lara, Utah Museum of Fine Arts, Salt Lake City (2010); Screens, frame frieze, London (2010); Artificial, Artpace, San Antonio (2009); Art Perform, Art Basel Miami, Miami (2008); Gaga Arte Con-temporaneo, Mexico City (2008); Galería Comercial, San Juan, Puerto Rico (2007); A Problem has oc-cured, Air de Paris, Paris (2007). Gruppenausstellungen (Auswahl): documenta (13), Kassel (2012); How to Work und How to Work (More for) Less, Kunsthalle Basel (2011); CGEM: Notes about Emancipa-tion, Museo de Arte Contemporaneo de Castilla, Leon (2010); The flowers, Coco Vienna, Wien (2010); Never very far apart, Redcat, Los Angeles (2010); Panamericana, Kurimanzutto, Mexico City (2010); The Generational: Younger than Jesus, New Museum, New York (2009); Galeria Sentimental, Tensta Konstall, Stockolm (2008); The Unruly History of Readymade, Colección Jumex, Ecatepec (2008); Pawn Shop, E-flux, New York (2007); La Otra, Perros Negros, Bogotá (2007); The Space Between, Drorit Gur-Arie, Petach-Tikva Museum, Israel (2007); Una noche en el museo o lo que vio Betty Boop, Museo Nacional de Arte Reina Sofia, Madrid (2007); LA MAMAIN ET LA PUTAIN, Air de Paris, Paris (2006); Cuarteto de Fantasía, Museo Experimental «EL ECO», Mexico City (2006); Nuevos RIcos, Prometeo Associazione Culturale per l’Arte Contemporanea, Lucca, Italien (2004); Localismos, Perros Negros. Mexico City (2004); GNS, Palais de Tokyo, Paris (2003); Incomprehension, Palais de Tokyo, Paris (2003); Arte, Vestido y Sustento, Xavier Rodriguez, Museo Ex-Teresa, Mexico City (2002).