Ein Projekt für die Rückwand der Kunsthalle Basel (neben der Elisabethenkirche)
Die Einladungskarte zum neuen Projekt an der Rückwand der Kunsthalle Basel von Fabio Marco Pirovino (geb. 1980, Basel) zeigt seine Fotografie PPG, 2006. Es ist die Reproduktion der Rückseite eines Bildes, das in Plastik eingeschweisst ist. Schaut man genauer hin, erkennt man einen Stempel mit dem Namen Pablo Picassos sowie ein Preisschild mit Barcode, auf dem „Guernica“ und „6,30 €“ zu lesen sind. Es handelt sich um eine billige Reproduktion von Guernica, dem ikonischen Gemälde des spanischen Malers, welches er 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica malte. Guernica wurde während des Spanischen Bürgerkriegs am 26. April 1937 durch Flugzeuge der deutschen Fliegerabteilung Legion Condor, die Verbündete von General Francisco Franco und den Nationalisten waren, bombardiert. Picasso hatte schon früher den Auftrag der spanischen Regierung erhalten, ein Gemälde für die Weltausstellung 1937 in Paris zu entwerfen und entschied sich nach der Bekanntmachung des Angriffs gegen sein ursprüngliches Konzept mit dem Titel „Der Maler und sein Modell“ und für die Darstellung von Gewalt und Leid. Nach der ersten Präsentation tourte das Gemälde durch verschiedene Städte Europas, unter anderem war es in der Whitechapel Gallery in London zu sehen, und ist bis heute eines der am Häufigsten reproduzierten Motive im Zusammenhang mit Antikriegsbewegungen geblieben. Ab 1939 hing das Werk im Museum of Modern Art in New York, wo es nach dem Willen Picassos bis nach Francos Tod blieb. 1981 wurde es ins Museo de Arte Reina Sofía in Madrid überführt. In jüngster Zeit erregte das Gemälde Aufmerksamkeit als die US-Regierung unter George W. Bush 2003 im UNO Hauptgebäude in New York eine Kopie des Bildes – einen 1985 von Nelson Rockefeller gestifteten Wandteppich – mit einer blauen Fahne abdecken liess. Der damalige amerikanische Aussenminister Colin Powell präsentierte vor dem verhüllten Bild Indizien für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak, um den bevorstehenden Einmarsch ins Land zu legitimieren. Wie sich später herausstellte, waren Teile des Beweismaterials gefälscht.
RAZZLE DAZZLE (PPG), 2010, die flächendeckende Wandmalerei an der Rückwand der Kunsthalle Basel von Fabio Marco Pirovino, ist eine aktuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie der kulturellen und politischen Bedeutung von Guernica (1). Mittels Mausklick suchte Pirovino nach dem ersten Bild, das unter dem Stichwort „Guernica“ bei Google erscheint und bearbeitete dieses mit einem einfachen Photoshop-Verfahren: Er bestimmte die unterschiedlichen Grauwerte im Bild und übermalte mit einer festgelegten Pinselgrösse die Darstellungen soweit, dass die in der Grisaille-Technik gemalten Figuren in abstrakte Flächen überführt wurden. Zuletzt drehte der Künstler das Bild auf den Kopf, um, wie er sagt, „die Komposition stärker zu betonen und das Gemälde noch einen Schritt weiter zu abstrahieren.“ Die digitale Bearbeitung des ursprünglichen Motivs wurde schliesslich wieder in ein analoges Verfahren übersetzt, indem der Künstler sein Bild am Computer von Hand nachzeichnete und entsprechend der gesamten Länge der Wand im „Copy&Paste“-Stil mehrmals hintereinander kopierte. Mittels einer alten Freskotechnik wurde das Motiv dann in entsprechender Vergrösserung mit einem echten Pinsel auf die Rückwand gemalt.
Picassos expressive Darstellung des Leids wird bei Pirovino zu einer etwas mehr als drei Mal wiederholten abstrakten Komposition, die selbst übergross an der Wand noch sehr digital anmutet. Der Duktus des (Photoshop-)Pinsels ist ebenso erkennbar wie die Naht, wo ein Bild ans nächste angesetzt wurde. In der Wiederholung muten die weissen, grauen und schwarzen Farbtöne wie eine Art der Camouflage an, die sich der figürlichen Darstellung entzieht. „Razzle Dazzle“ – zu Deutsch Täuschungsmanöver, Durcheinander, aber auch Effekthascherei – ist die Bezeichnung von Tarnmustern von Kriegsschiffen, die mehrheitlich im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden (Das Muster geht zurück auf den britischen Künstler Sir Norman Wilkinson und sollte eher der Verwirrung als der Tarnung dienen).
RAZZLE DAZZLE (PPG) verweist nicht nur auf die symbolische Bedeutung von Guernica als politisiertes und vielfach reproduziertes Gemälde, sondern ist auch ein Nachdenken über die Macht der Bilder an sich – in Fotografie wie Malerei – und deren Gebrauch und Instrumentalisierung heute. Die Verfügbarkeit von visuellem Material im Netz und die technische Entwicklung von Bildbearbeitungsprogrammen ermöglicht eine massive gestalterische Freiheit in der Kunst, deren Grenzen sich in der Politik konträr dazu verhält: digitale Bearbeitung und Vervielfältigungstechniken von Medienbildern erleichtern die Verfälschung von Tatsachen und werden aus unterschiedlichen politischen Gründen von verschiedenen Seiten in Konflikten als Propagandamittel eingesetzt. Die vermeintliche Transparenz durch die Allgegenwärtigkeit von Foto- und Filmkameras und dem Zugang zum Internet wird immer wieder durch Falschmeldungen von manipuliertem Bildmaterial gebrochen. Selbst die Vorlage stellt sich als eine nicht ganz exakte Repräsentation des Originals heraus: das erste Bild, was zum Zeitpunkt der Suche im Netz unter dem Stichwort „Guernica“ erschien, war leicht angeschnitten.
Pirovino, der sein Fotografiestudium 2007 an der Zürcher Hochschule der Künste abschloss, hat eines der meist zitierten Gemälde als Vorlage genommen. Sein Werk ist ein zeitgenössischer Kommentar über das Bestreben der Kunst nach einer Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen jenseits eines reinen Abbildungscharakters. Pirovino arbeitet bei der Produktion seiner Werke, die Fotografie ebenso wie Zeichnungen und Aquarelle umfassen, mit der Affinität eines Malers: Verschiedenste Materialien werden spielerisch auf ihre Formen überprüft und neue Kompositionen mittels Variation und Reduktion geschaffen. Der Prozess der digitalen Bearbeitung ist dabei immer offen gelegt und die Schnittstellen der fotografischen „Collagen“ bleiben – wie auch an der Rückwand – sichtbar.
Von Andy Warhol ist überliefert, dass er seinen Assistenten fragte, was er machen könnte, das abstrakt, aber nicht wirklich abstrakt wäre. Das Arbeiten mit Camouflage war eine Antwort mit einem abstrakten Muster umzugehen, das dennoch unzählige Assoziationen wach rief. Von Pirovino könnte man sagen, dass er sich wie ein Terrorist zu Picasso und Warhol verhält: er entpolitisiert Guernica und wappnet es gleichzeitig für eine post-politische Ära, indem er es wieder militant macht.
(1) Die Stadt Basel verbindet eine einzigartige Beziehung zu Picasso. Bereits 1914 wurden erste Arbeiten von Picasso in der Kunsthalle Basel ausgestellt und 1967 bot Peter G. Staechelin, der Hauptaktionär der Basler Charterfluggesellschaft „Globe Air“, der Stadt zwei Gemälde aus der Familiensammlung für 8.4 Mio. Schweizer Franken zum Verkauf an, um sein marodes Flugunternehmen vor dem (nicht mehr abwendbaren) Konkurs zu retten. Der Grosse Rat bewilligte einen Kredit von 6 Mio. und innert weniger Wochen konnte mit einer Sammelaktion, dem „Bettlerfest“, die fehlende Summe von 2.4 Mio. aufgeboten und die Werke fürs Kunstmuseum Basel angekauft werden. Pablo Picasso schenkte der Stadt aus Freude über den Ankauf später noch vier weitere Gemälde.
Das Projekt wurde grosszügig unterstützt von:
Sachsponsoring von:
Dold AG, Münchenstein
Fleig Plot AG, Basel
Fabio Marco Pirovino (geb. 1980, Basel) lebt und arbeitet in Basel und Zürich. Er ist Absolvent des Studienbereichs Fotografie der Zürcher Hochschule der Künste. Pirovino war mehrmals an der Regionale vertreten und erhielt anlässlich der Regionale 10 in der Kunsthalle Basel den Reisepreis des Basler Kunstvereins. Er war an diversen Gruppenausstellungen vertreten u.a. an der Plat(t)form, Fotomuseum Winterthur und mit Amberg&Marti in Riga (Amberg&Marti zeigen FMP) (beide 2007). Im August 2010 stellt Pirovino im Ausstellungsraum Klingental in der Gruppenausstellung The Artist and the Photograph aus. Im Januar 2010 hatte er eine Einzelausstellung in der Coalmine Fotogalerie, Winterthur (20th Century Fox, in Memory of Thomas Knoll) und 2009 bei Abbt Projects, Zürich (Fabio Marco Pirovino: Propaganda + Instinct), Paloma Presents, Zürich (FMP at his own flat) sowie bei Marks Blond Projects in Bern (Icarus).