Land

Helen Mirra, Rivane Neuenschwander, Katja Strunz

Wie lassen sich Himmel und Horizont bemessen und in eine haptisch wahrnehmbare Form fassen? Woraus erbaut sich die Welt, wenn unzählige Ameisen kleine Papierfetzen, die mit „world“, respektive „word“ beschriftet sind, von einem Ort zum anderen tragen? Welche rhomboiden Splitter fragmentieren die Weltsicht und ragen gleichsam wie Brocken der Erinnerung aus der weiten See hervor? Die einfache, mancherorts spröde Formensprache, die in den Werken der drei Künstlerinnen vorherrschen, formulieren auf poetische und zuweilen verspielte Weise Situationen des Übergangs – vom Wasser zum Land, vom Himmel zur Erde, vom Unbewussten zum Bewussten, von der Abfahrt zur Ankunft.

Land, Land! – ein Ausruf nach langer Fahrt. Die Ausstellungsräume werden von den ikonografischen Zeichen Horizont, Schiff, Himmel oder Wasser besetzt. Losgefahren und noch nicht gänzlich angekommen: Helen Mirra (1970, Chicago), Rivane Neuenschwander (1967, Belo Horizonte, Brasilien) und Katja Strunz (*1970, Berlin) lokalisieren in ihren Werken den Zustand zwischen Abfahrt und Ankunft. Ausgehend von Strategien der Minimal- und Concept-Art sind sie in ihrem plastischen Schaffen dem Fragilen, Vergänglichen und Unfassbaren verpflichtet. In allen drei Werken tauchen immer wieder Land- und Landschaft, die See und das Schiff, Sprache und Schrift als Themenkreise auf.

Helen Mirras Bodenarbeit Sky-Wreck (2001) wird erstmals in Europa zu sehen sein. Der Titel der Arbeit – Himmelswrack – ist einem Gedicht von Paul Celan entlehnt, das kompositorische Modell wiederum basiert auf dem geodätischen Modell des Architekten und Utopisten Buckminster Fuller (1895–1983). Eins zu eins hat Mirra den Horizont als Modell für die Konstruktion der auf die Fläche projizierten Himmelskuppel genutzt. Unter der von der Künstlerin selbst gesuchten Vorgabe, im Raum das Prinzip des Himmels zu entwickeln, verdichtet sich in der Stofflichkeit der Plastik die Fragen, die seit Menschengedenken gestellt werden: Was, wo, wie der Himmel sei. Ohne Himmel zu sein, ist wie ohne Vorstellungskraft zu sein – ein Ding der Unmöglichkeit. Grösse, Unendlichkeit, Unfassbarkeit liegt uns materiell zu Füssen. Neben den textilen plastischen Arbeiten sind Film, Poesie und Musik als gleichwertige Ausdrucksformen von zentraler Bedeutung. Erfahrung der Welt und Orientierung in der Welt werden konkret und physisch wahrnehmbar. Sie entwirft eine alternative Kartografie und macht Filme lesbar und abschreitbar, Landstriche hörbar, Erinnerung sichtbar.

Rivane Neuenschwander kreist in ihrer künstlerischen Arbeit ebenfalls um Themen wie Erinnerung, Flüchtigkeit, Immaterialität. Minimalistische Geometrie und zufällig gewachsenes organisches Leben kommen in den Werken zusammen und entfalten durch die präzis geführte Einfachheit eine eindringliche Poesie. Improper Seascape (coming and going), 2002 nimmt ebenfalls die Weite und Unendlichkeit auf, ein Horizont, aus einer Aneinandereihung zahlreicher, gefundener Seestücke umspannt den Raum. Oft kommen bei der Werkgenese Tiere – Maikäfer, Schnecken oder Fische zum Einsatz. So beispielsweise lässt sie in ihrem super-8 Film Word/World (2001), den sie in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Filmemacher Cao Guimarares entwickelt hat, Ameisen zu Protagonisten werden. Welches Wort erschafft welche Welt? Welche Welt braucht welches Wort?, sind Fragen, die in den Ameisenstaat eingeschleust werden.

Prozesshaftigkeit und Transfer zeichnet auch das Werk von Katja Strunz aus, was bei den klaren Linien ihres plastischen Schaffens erstaunen mag. Die meist aus unterschiedlichen rhomboiden Formen zusammengefügten Wandplastiken aus schwarz gefärbtem Holz entstehen im Prozess des Collagierens. Das Schiff, als Zeichen des Tranfers, taucht in Strunz’ Bildcollagen und auch in frühen Arbeiten immer wieder als Motiv auf. Im Zentrum ihres Werkes stehen Auf-, Um- oder Verwertung, sowohl im materiellen wie auch ideellen Sinne. So setzen sich ihre Plastiken immer aus gefundenen Materialien zusammen – Holz, Metall, kleine, am Flohmarkt erstandene Objekte. In den sich verkeilenden rhombusförmigen Splittern findet das Fragment und das Fragmentieren – als Begriff und Handlung, die unsere zeitgenössische Welterfahrung so stark beherrschen -, eine prägnante ästhetische Form. Die Materialität und Tonalität ihrer Werke führt in eine geheimnisvolle Schwere und Tiefe, in dem das Schauspiel von Leben und Vergehen, Hoffung und Scheitern, Unbewusstem und Bewusstem Platz findet.

Katalog-Künstlerbuch
Der von den Künstlerinnen gesuchte Zugang zu Wort und Sprache schlägt sich auch im Katalog nieder, der als Künstlerbuch gestaltet ist. Neben den Beiträgen der drei Künstlerinnen ist mit „Landgang“, einem Essay von Gregor Hens (geb. 1965) ein literarische Auseinandersetzung zum Thema „Übergang“ im wörtlichen wie übertragenen Sinn gesucht. Bei dem Essay handelt es sich um einen Vorabdruck aus Transfer Lounge. Deutsch-amerikanische Geschichten (marebuchverlag März 2003). Hens hat mit Himmelssturz (btb Verlag, 2001) debütiert. Der Katalog mit einer Einführung von Christina Végh, Kuratorin der Ausstellung, erscheint in Schwabe Verlag, Deutsch/Englisch, mit zahlreiche Farbabbildungen.

Die Ausstellung wurde grosszügig unterstützt von:

E. Gutzwiller & CIE

ifa / Institut für Auslandsbeziehungen e. V.