Während der letzten sieben Jahre hat die junge italienische Künstlerin Micol Assaël (*1979) ein bemerkenswertes Werk geschaffen. Zu Assaëls dichten und beunruhigenden Installationen gehören Veränderungen bestehender architektonischen Strukturen, wie beispielsweise 2002 in der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Turin, wo die Künstlerin eine Reihe von Löchern gebohrt hat, die sich in einem festgelegten Winkel als Linie durch mehrere Räume der Galerie zog. In anderen Arbeiten konstruiert die Künstlerin neue Räume oder arrangiert bestehende um. In ihrer Installation an der Biennale in Venedig 2003 hat die Künstlerin einen Raum vollständig mit Eisen ausgekleidet und mit starken Ventilatoren ausgestattet, die heisse, orkanartige Luft hinein bliesen. Durch den reduzierten Gebrauch von Möbeln und Technik, wie alte Stromgeneratoren, zur Schau gestellte elektrische Leitungen und andere Apparaturen, erinnern die von Assaël bearbeiteten und angepassten Räume oft an verlassene Gefängniszellen, Exekutionskammern oder Kühlräume. Die Künstlerin beschäftigt sich in ihren Arbeiten auch mit verschiedenen Anordnungen für Experimente des menschlichen Verhaltens, die sie in ihren Raumszenarien entwirft und ausführt. In diesen performativen Situationen werden die Besucher – sich ihres Status als Gegenstand der Untersuchung nicht bewusst – physisch und geistig beeinflusst. Assaëls Arbeiten können kaum auf passive Art erfahren werden, denn sie provozieren und geben manchmal Interaktionen vor, die physisches und psychisches Unwohlsein hervorrufen können.
Mit der neuen Installation Chizhevsky Lessons, 2007 in der Kunsthalle Basel bezieht sich die Künstlerin auf den russischen Wissenschaftler Alexander Chizhevsky (1897-1964), dessen Forschungen sich auf den Zusammenhang zwischen Sonnenaktivität und bedeutenden historischen Ereignissen, wie Kriege und Revolutionen, richteten. Chizhevsky führte Experimente durch, in denen er den Einfluss ionisierter Luft auf Lebewesen testete und wurde als einer der Pioniere der Weltraumbiologie bekannt. Assaëls Interesse an der Wissenschaft und der praktischen Anwendung veralteter oder vergessener wissenschaftlicher Theorien führte zu der Zusammenarbeit mit einem Forschungsinstitut für Physik in Moskau, in welchem das Projekt für die Kunsthalle entwickelt worden ist. Die Installation besteht aus einem speziell angefertigten Stromgenerator, elektrischen Kabeln und über die Besucher gehängten Kupferplatten. Mit diesem Equipment wird der 200 m2 grosse Oberlichtsaal der Kunsthalle in einen gigantischen „Chizhevsky-Lüster“ verwandelt. Diese technische Anordnung wandelt Luftpartikel in Anionen (elektrisch negativ geladene Atome) um, wodurch eine schwache elektrostatische Spannung im Raum aufgebaut wird. Jeder Besucher, der den Raum betritt, wird so elektrisch aufgeladen. Berührt er ein Objekt oder eine andere Person, die entgegengesetzt geladen ist, findet eine kleine Entladung statt. Dieses physikalische Phänomen kennen wir aus dem Alltag, wenn wir beim Berühren eines anderen Menschen oder von Gegenständen wie der Autotüre beim Aussteigen, elektrische Entladungen spüren. Die Installation konfrontiert die Besucher mit der Immaterialität von Strom, als einer natürlichen und gleichzeitig geheimnisvollen Kraft, die fasziniert, aber immer auch Gefahr ausstrahlt.
Zur Ausstellung in der Kunsthalle Basel wird ein Katalog erscheinen mit Texten von Adam Szymczyk, Esther Coen, Michael Michailovich und der Künstlerin, der sich vor allem auf die neueste Arbeit Chizhevsky Lessons bezieht und diese dokumentiert.
Micol Assaël ist 1979 in Rom geboren und lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt und in Moskau. Assaël war in den letzten Jahren an wichtigen internationalen Gruppenausstellungen vertreten, wie 2005 und 2003 an der Biennale in Venedig sowie 2004 an der Manifesta 5 in San Sebastian, Spanien. Aktuell ist die Künstlerin in der Gruppenaustellung Schmerz im Hamburger Bahnhof, Berlin vertreten.